An der Weltmeisterschaft 1963 gab es eine denkwürdige Partie zwischen Robert Byrne und dem häufig als besten Schachspieler aller Zeiten bezeichneten Bobby Fischer. Diese Partie war deshalb aussergewöhnlich, weil bei einem überraschenden Zug Bobby Fischers alle Kommentatoren meinten, er würde diesen Zug aus Verzweiflung tun. Aber er war genial, weil Bobby Fischer über viele Züge hinweg einen Plan hatte, wie er den Gegner schliesslich Matt setzen könnte. Selbst als der Gegner aufgab, waren viele Kommentatoren verstört und dachten, es sei ein Missverständnis. Wen die Partie interessiert, hier.
Und nun zur KI. Heute würde so etwas nicht mehr passieren. Die Kommentatoren einer Schach-WM sitzen mit Engine-Leisten bewaffnet in ihrer Kommentatorenkabine. Und bei Bobby Fischers genialem Zug hätte die Engine-Leiste schon vor dem genialen Zug heftig zu seinen Gunsten ausgeschlagen, im Video zu sehen. D. h., auch heutige Schachprogramme können die von Bobby Fischer gewählte Kombination durchrechnen und sehen deshalb den Vorteil.
Man könnte nun denken, dass es heute das Langweiligste der Welt wäre, eine Schach-WM zu kommentieren. Man schaut einfach, was der Computer machen würde und vergleicht das z. B. mit dem Spiel des Weltmeisters Magnus Carlson.
Doch so ist es nicht!
Es kommt vor, dass der deutsche Grossmeister Huschenbeth, der ein solcher Kommentator ist, wie nebenbei sagt: „Dieser Zug wäre gemäss Computer übrigens der Beste gewesen. Aber ich würde ihn auf keinen Fall empfehlen, denn er ist extrem verpflichtend.“ Was meint er damit? Er meint, dass in einem solchen Fall das Computerprogramm 8-10 Züge durchgerechnet hat und feststellt, dass beim empfohlenen Zug der Spieler seine Position nach 8 Zügen ganz geringfügig verbessert. Nur: der Zug ist extrem verpflichtend. Das heisst, dass alle 8-10 Züge absolut fehlerfrei gespielt werden müssten. Für ein Computerprogramm kein Problem, für Carlson vielleicht mit grosser Anstrengung möglich, für einen Amateur: keine Chance. Ein Amateur würde sicher einen Fehler machen, den der Gegner ausnutzen könnte, sodass er danach total im „Seich“ wäre. Es gibt also Züge, die der Computer anzeigt, die zwar theoretisch gut wären, aber extrem gefährlich sind.
Und jetzt stellt sich natürlich die folgende Frage: Wo in unserer Gesellschaft machen wir – verführt von der KI – solch „verpflichtende Züge“? Ein einfaches Beispiel: Viele Musiker spielen heute vielfach nicht mehr mit Papiernoten, sondern mit elektronischen Noten. Das hat den Vorteil, dass man – spielt man ein Instrument, wo der Fuss nicht gebraucht wird – mit einem Pedal die Seiten wechseln kann, erst noch geräuschlos. Gäbe es aber einen längeren Stromausfall, wie würde es uns nicht langweilig werden, wenn weder der Fernseher noch das Handy funktioniert und alle Bücher nur noch im E-Book ohne Saft vorhanden wären? Genau, wir könnten musizieren – ausser wir hätten elektronische Noten… Dann gäbe es nur noch eine Tätigkeit ohne Strombedarf, sodass nach 9 Monaten die Geburtenrate steigt…
Ein wirtschaftlich einschneidenderes Beispiel: durch ausgeklügelte Software wurde die lean-Production populär. D. h., man brauchte keine teuren Lagerhallen mehr, sondern produzierte alles „in time“. Die Software wusste, dass der Transport dieser Schaltplatte 8 Tage dauern würde, also musste sie das dazugehörige Gehäuse, dessen Transport 5 Tage dauerte, 3 Tage später bestellen. Am Schluss kam alles optimal am Tag x zusammen. Doch dann verstopft ein Schiff in unvorhergesehener Weise den Suezkanal, oder eine chinesische Stadt wird durch die Klimakatastrophe in den Lockdown gezwungen (hier), und der Unternehmer, der auf lean-Production gesetzt hat, ist total im „Seich“.
Deshalb hiesst das neuste Buch des immer zuvorderst auf der Welle des Zeitgeists surfenden Jeremy Rifkin „Das Zeitalter der Resilienz“, nachdem er in „die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ wahrscheinlich noch das Gegenteil propagiert hat.
Soll heissen: Lieber einen Weg einschlagen, der nicht so effizient, dafür stabil ist und unvorhergesehene Abzweigungen zulässt.Mehrere Seiten im Tages-Anzeiger zu künstlicher Intelligenz. Unter anderem darüber, wie Computer die Welt – oder mindestens sehr eingeschränkte Teile davon – «ordnen». Wie zu erwarten bar jeglicher Kritik.
Am selben Tag ein interessanter Artikel über Dostojewkis Grossinquisitor. Jesus sei gekommen, um den Menschen die Freiheit zum Guten zu schenken. Doch – so der Grossinquisitor – die Menschen wollten diese Freiheit gar nicht, sie würden Ordnung bevorzugen. Darum hätten es Diktatoren, die zugunsten der Ordnung die Freiheit einschränken, so einfach.
Leider ist die Aktualisierung dann etwas plump: ein Bild mit Hitler, Putin und Stalin, deren Köpfe überschrieben sind mit «no more time». Ich hätte einen unbequemeren Aktualisierungsvorschlag, nämlich den Hinweis auf die französische Übersetzung von Computer: l’ordinateur.
Gedanke Nr. 7: Wie ich zum Bundesrat wurde
Letzthin bei einem Besuch wurde ich gefragt, ob es sich gut machen liesse, gleichzeitig in Richterswil Pfarrer zu sein und ebenso noch in Bern zu arbeiten. Verwundert fragte ich mich, was das für eine Verwechslung sei. Ich weiss, dass ich einen Namensvetter habe, der in Wallisellen SP-Politiker ist, und ebenso weiss ich von einem Urologen aus Basel, der denselben Namen wie ich trägt. Aber Bern?
Ich würde doch im Bundesrat arbeiten, fuhr der Besuchte fort. Was mich noch konsternierter werden liess.
Eine Suche auf dem Handy zeigte dann, dass ich im elektronischen Telefonbuch telsearch tatsächlich sogar als Bundesrat bezeichnet werde, folgendermassen:
Bin ich jetzt ohne mein Wissen Bundesrat geworden? Natürlich nicht.
Die Antwort liegt – man ahnt es – bei der künstlichen „Intelligenz“.
Ich habe dem Bundesrat einen Brief geschrieben, dass die Schweiz den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreiben solle, um mehr Druck zur Abrüstung auf die Staaten mit Atomwaffen auszuüben.
Dazu – damit andere Interessierte auch einen Brief schicken könnten – fügte ich die Adresse des Schweizer Bundesrates an.
Die künstliche „Intelligenz“ hat nun richtigerweise – wohl, weil ich die Adresse meiner Homepage auf telsearch selbst angegeben habe – meine Homepage mit meinem Telefoneintrag verbunden. Nicht sehr intelligent war jedoch die Verbindung meiner Adresse mit derjenigen des Bundesrates.
Das zeigt: Algorithmen finden Muster. Einige sind sinnvoll, andere dagegen sind Quatsch. Mein Beispiel zeigt, dass es manchmal unerklärlich ist, warum Algorithmen etwas tun. Nun gut: über Nacht zum Bundesrat werden, tut nicht weh. Aber wenn man weiss, dass Algorithmen im Gesundheitswesen und Militär benutzt werden …
Der in Gedanke Nr. 4 beschriebene Joseph Weizenbaum (zuerst Computerpionier am MIT, nach seinem Programm «Eliza» Computerkritiker) schrieb in seinem Buch «Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft» über ein Phänomen, dass zuerst vielleicht überrascht: über das Allmachtsgefühl. Er meinte, dass ein Programmierer absolute Macht darüber habe, was der Computer mache. Der Computer macht auf den Punkt genau das, was das Programm ihm vorschreibt. Man vergleiche das mit einem Gärtner, der einen Baum pflanzt. Er kann nicht genau sagen, wie dieser in zehn Jahren aussehen wird. Wenn ein Lehrer von seinen Schülerinnen und Schülern gleichen Gehorsam fordern würde, wie ein Programmierer vom Computer, dann würde er wohl bald zu Recht des Machtmissbrauchs angeklagt. Aber ein Programmierer hat absolute Macht, deshalb logischerweise das Allmachtsgefühl.
Es gilt aber auch das Gegenteil. Die Ohnmacht. Ist irgendeine Unterzeile falsch, läuft nichts so wie vorgesehen und alles stürzt ab bzw. hängt sich auf. Dieses ständige Hin- und Her zwischen Allmacht und Ohnmacht ist psychisch ungesund.
Deshalb beobachtete Joseph Weizenbaum, dass sich Programmierer wie Junkies verhielten. In einer Zeit, als es nur Grossrechner gab, habe er manchen gesehen, der flehend auf den Knien herumgerutscht sei, um vom Vorgesetzten noch ein paar Minuten mehr Zeit am Computer zu erbetteln. Manche hätten auch wie Spielsüchtige, die kurz vor Schluss beim Roulette noch alles auf eine einzige Zahl setzen, hochriskante Änderungen an Programmen vorgenommen, mit denen sie auch das, was noch gut gewesen wäre, zerstört hätten.
Allmacht schreibt man Gott zu. Doch die Theologie hat mittlerweile grösstenteils eine kritische Haltung dazu. Der Philosoph Hans Jonas kritisierte im Buch «Gottesbegriff nach Auschwitz» die klassische Anschauung des Allmachtbegriffs. Aber auch schon früher gab es kritische Gedanken dazu. Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal fragte sich, ob Gott allmächtig wäre, wenn er alle Steine heben könnte, oder ob er im Gegenteil noch allmächtiger wäre, wenn er einen so schweren Stein erschaffen könnte, dass er ihn selbst nicht mehr aufheben könnte.
Die Theologie hat mittlerweile einen differenzierten Allmachtbegriff, während er von der Computerwelt unkritisch übernommen wird.
Nicht nur Allmacht, auch andere Eigenschaften, die Gott zugeschrieben werden, finden sich mittlerweile in der Computerwelt. Die Allwissenheit: Google, Wikipedia, Alexa – das Internet weiss alles. Die Ubiquität (überall anwesend sein): Früher fragte man vielleicht, wo die Toiletten sind, heute ist die erste Frage in einem neuen Raum: wie heisst das WLAN-Passwort? Der Karikaturist «Sojer am Berg» ersetzte in einem Cartoon in den ALPEN (Magazin des Schweizer Alpen Clubs) das Gipfelkreuz richtigerweise mit einer Handyantenne. Das Internet muss überall zu empfangen sein! Erlösung: Politiker wie Martin Bäumle meinen, dass 5G und innovative Dinge wie smart grid (intelligentes Stromnetz) uns von der Klimakatastrophe erlösen könnten. Neuerdings kommt in der Computerwelt auch die Ewigkeit nicht zu kurz. Die so luftig überirdisch scheinende Cloud wird in 6-7 Rechenzentren gleichzeitig abgespeichert, nach bestimmten Regeln. Eine davon ist, wie ich erstaunt in einer Zeitung (le monde diplomatique) gelesen habe, dass mindestens eine Kopie «gegentektonisch» gespeichert werden muss, also auf einer anderen Erdplatte. Wenn es auf einer Erdplatte ein apokalyptisches Erdbeben gäbe, wären alle Facebook- und Insta-Photos auf der anderen Erdplatte aufgehoben, in Ewigkeit.
Das grösste Rechenzentrum der Welt ist übrigens südlich von Peking, hat eine Grösse von ca. 100 Fussballfeldern und wird hauptsächlich mit Kohle betrieben. Es heizt also zusätzlich ein für den Klimawandel. Somit hätten wir auch die Opfer, die zu einer Religion dazugehören.
Um so kritischer sehe ich, dass vor allem Freikirchen ein sehr computeraffines Vokabular pflegen. Da ist dann das Gebet ein Online-sein mit Gott, die Bibel ist der Server Gottes, und die tägliche Bibellektüre das Update, um den Tag gottesgemäss bewältigen zu können, ohne in den Drogensumpf abzustürzen. Mit einer Meditation oder Gottesdienst lädt man den Akku auf usw. Und dann gibt es da ja auch noch die Community, sowohl reell als auch virtuell.
Vielleicht sollte man nach den vorgehenden Überlegungen damit ein bisschen zurückhaltender sein.
«Woran du nun dein Herze hängst, das ist dein Gott.» Das sagte Martin Luther. Das trifft auf die Computerwelt schon lange zu.
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