Die Fuge als Vorbild für die Gesellschaft, das Leben und den Glauben

AT-Lesungstext:  Qoh 3, 1-8
1Für alles gibt es eine Stunde, 
und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel:
2Zeit zum Gebären 
und Zeit zum Sterben, 
Zeit zum Pflanzen 
und Zeit zum Ausreissen des Gepflanzten,
3Zeit zum Töten
und Zeit zum Heilen,
Zeit zum Einreissen
und Zeit zum Aufbauen,
4Zeit zum Weinen
und Zeit zum Lachen,
Zeit des Klagens
und Zeit des Tanzens,
5Zeit, Steine zu werfen,
und Zeit, Steine zu sammeln,
Zeit, sich zu umarmen,
und Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen,
6Zeit zum Suchen
und Zeit zum Verlieren,
Zeit zum Bewahren
und Zeit zum Wegwerfen,
7Zeit zum Zerreissen
und Zeit zum Nähen,
Zeit zum Schweigen
und Zeit zum Reden,
8Zeit zum Lieben
und Zeit zum Hassen,
Zeit des Kriegs
und Zeit des Friedens.

NT-Lesungstext: Röm 12, 4-8
3Denn ich sage einem jeden unter euch kraft der mir verliehenen Gnade: Sinnt nicht über das hinaus, was zu sinnen nottut! Seid vielmehr auf Besonnenheit bedacht, jeder, wie Gott ihm das Mass des Glaubens zugeteilt hat. 4Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, die Glieder aber nicht alle dieselbe Aufgabe erfüllen, 5so sind wir, die vielen, in Christus ein Leib, im Verhältnis zueinander aber Glieder. 6Wir haben verschiedene Gaben entsprechend der Gnade, die uns gegeben wurde: sei es die Gabe, prophetisch zu reden in Ausrichtung auf den Glauben, 7sei es die Gabe zu dienen, wo es um Dienst geht, zu lehren, wo es um Lehre geht, 8Trost zu spenden, wo es um Trost geht. Wer andern etwas gibt, tue es ohne Hintergedanken; wer eine Leitungsaufgabe versieht, tue es mit Hingabe; wer Barmherzigkeit übt, tue es heiter und fröhlich.

Predigt

Liebe Gemeinde

Sie kennen sicher die Redewendung: „Er (oder sie) will immer die 1. Geige spielen“. Das heisst, jemand will der Chef sein, den Ton angeben, die anderen sollen sich unterordnen.

So ist es normalerweise bei sogenannt homophoner Musik der Fall, z. B. in einem Streichquartett: Die 1. Geige spielt die Melodie, das Wichtigste, und die anderen Instrumente, die 2. Geige, die Bratsche und das Cello spielen die Begleitung.

Wenn die 1. Geige alleine spielen würde, würden alle sofort die Musik wiedererkennen. Es würde etwas dünn tönen ohne Begeleitung, aber die Melodie, das Wichtigste ist da.

Wenn die anderen drei Instrumente oder gar eines deren alleine spielen würde, würden alle sagen: „Da fehlt ja das Wichtigste, das tönt ja nicht richtig nach Musik“.

Dieses Prinzip kennen wir aus der Gesellschaft, noch mehr aus der Wirtschaft. Ein sehr gut bezahlter CEO gibt den Ton an, steht im Rampenlicht, verkörpert die Firma, die anderen führen das aus, was er bestimmt.

Doch viele kirchliche Musik ist sogenannt polyphone, streng mehrstimmige Musik. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Fuge.

Da gibt nicht immer die erste Geige, die oberste Stimme den Ton an. Die wichtigste Stimme bei einer Fuge ist jeweils diejenige, die das Thema angibt, die anderen setzten den sogenannten Kontrapunkt.

Das Fugenthema kann z. B. zuerst in der tiefsten Stimme, im Bass sein, dann im Tenor, im Alt und erst zuletzt in der obersten Stimme, dem Sopran oder der Geige. Es wechselt zwischen den verschiedenen Stimmen hin und her.

In einer Fuge ist also nicht eine Stimme oder ein Instrument der Chef, man wechselt sich sozusagen ab, eine Stimme tritt nach vorn, die anderen zurück, kurz darauf tritt diese Stimme wieder zurück und eine andere tritt hervor.

Wenn wir bei einer Fuge jede Stimme einzeln spielen würden, ist nicht eine alles und die anderen nur Begleitung. Jede Stimme tönt einzeln interessant, aber man merkt ihr trotzdem an, dass sie noch Partner braucht, um vollkommen zu sein.

Deshalb schreibt der Musiker Christoph Rueger, der ein Buch über Johann Sebastian Bach geschrieben hat: „Die einzelne Stimme darf und soll sich nach ihren besten Möglichkeiten entfalten, aber stets die Ausgewogenheit des Klanggeschehens berücksichtigen.“ und ebenso: „Rücksichtslosigkeit der einzelnen Stimme gegenüber dem Klangganzen würde das Ende der Musik bedeuten.“

Im Gegensatz zur heute allgemein vertrauten Musik, in der die erste, meistens die höchste Stimme, alles darf, und die anderen zu dienen haben, müssen in einer Fuge alle Stimmen sich entfalten und sich doch auch mit den anderen koordiniert entwickeln.

Ähnlich sieht Paulus die christliche Gesellschaft als verschiedene Körperglieder, die unterschiedliche Funktionen haben.

Aber auch da: Paulus meint, wenn das Auge zur Hand sagen würde, es brauche sie nicht, oder der Kopf zum Fuss, er brauche ihn nicht, dann käme es nicht gut.

Manchmal ist das eine Körperteil wichtiger, ein Stunde später ein anderes, doch wenn ein Körperteil rücksichtslos ist, geht der ganze Körper zugrunde.

Ich glaube, dass unsere Gesellschaft humaner aussehen würde, wenn wir uns mehr an der Fuge und an Paulus orientieren würden, wenn wir wüssten, dass eine Person, eine Berufsgruppe, eine soziale Schicht immer auch auf andere, die sie ergänzen, für das Klangganze angewiesen ist.

Wir können von der Fuge nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für unser persönliches Leben lernen.

Normalerweise denken wir doch ähnlich wie der König Salomo: es gibt verschiedene Zeiten in unserem Leben, gute, schlechte, angenehme, mühsame usw. Und die meisten hoffen, dass hauptsächlich das Glück die Melodie des Lebens bestimmt. Solange die erste Geige eine fröhliche Melodie in Dur spielt, gefällt uns das Leben. Zwischendurch liegt eine melancholische Moll-Passage auch noch drin, aber möglichst nicht zu lange.

Beim evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis wegen seinem Kampf in das Gefängnis gesteckt und schliesslich hingerichtet hatten, war die Lage etwas anders. Im Gefängnis dachte er neu über das Leben nach. Er konnte sicher nicht behaupten, dass dort seine Lebensmelodie hauptsächlich nach Glück tönte. Nein, eher waren die Gefühle im Gefängnis ein Gemisch aus Hoffnung und Resignation, Widerstand und Ergebung, Ungeduld und Durchhaltevermögen.

Wie bei einer Fuge tritt ein Gefühl deutlich aus dem Gemenge hervor, verschwindet danach wieder und macht einer anderen Stimme Platz.

Dietrich Bonhoeffer, der selber gut Klavier spielen konnte, dachte im Gefängnis oft auch an die Musik und schrieb einmal einem Freund sinngemäss: welch unbeschreibliche Wendungen die einzelnen Stimmen auch nehmen, wie dissonant einzelne Stimmen manchmal zueinander stehen – das Wichtigste sei, dass die Liebe Gottes das Hauptthema der Musik bestimme, zu dem hin sich das ganze Stimmengeflecht hin entwickeln müsse.

Ich habe einmal das Gespräch zwischen einem Theologen (Johann-Baptist Metz) und einer Theologin (Dorothee Sölle) gelesen, in dem die Theologin der Ansicht war, Gott zeige sich den Menschen vor allem im Glück, der Theologe dagegen, Gott zeige sich den Menschen vor allem im Unglück.

Denkt man an die Fuge, ist diese Frage sinnlos: Das Hauptthema kann sich in verschiedenen Stimmen zeigen, Gott kann sich im Glück und im Unglück, im Beharren wie in der Veränderung zeigen.

Ein Leben, in dem das Glück immer die erste Stimme hat, ist illusorisch. Das Leben ist häufig ein Gemisch aus verschiedenen Gefühlen und Regungen. Manchmal sind wir gerade im grossen Glück auch sehr feinfühlig und spüren das Leiden anderer, und manchmal sehen wir erst in der Traurigkeit schöne Dinge, die wir sonst nicht sehen würden.

Dafür steht die Fuge. Jede Stimme beleuchtet die andere, das Glück beleuchtet das Unglück und umgekehrt. Wichtig ist nicht, dass unser Leben nur aus Glück besteht, sondern dass alles am Ende doch irgendwie stimmig zusammenpasst.

(Und noch etwas können wir von der Fuge lernen. Grosse Künstler der Fuge haben einen ganzen Werkzeugkasten. Sie können das Hauptthema verlangsamen, verschnellern, umdrehen oder auf den Kopf stellen, Spiegelung und Umkehrung sind die Fachbegriffe. Als Laie ist es schwer, ein so verstelltes Thema zu hören. So ist es wohl auch mit Gott. Er hat verschiedene Gesichter und manchmal ist er da, obwohl wir es nicht bemerken.)

Zuletzt ist für mich die Fuge auch ein gutes Gleichnis für Gott. Es gibt ja die Frage, die das weltweit bekannte Heidi der Grossmama in Frankfurt gestellt hat.

Warum soll ich beten?

Der liebe Gott kann doch nicht alle Menschen gleichzeitig hören und für alle gleichzeitig sorgen?

Gottesbilder sind nur Gleichnisse, aber als Gleichnis fände ich das Bild von Gott als grossem Fugenkompositeur ein gutes Bild, als einer, der die milliarden verschiedenen Stimmen der Menschen zu einer grossen Weltenfuge zusammenbringen kann.

Unvorstellbar – aber: Für Laien ist es auch unverständlich, dass ein Organist mit jeder Hand zwei völlig selbständige Stimmen spielen kann und obendrein noch eine mit den Füssen.

Max Reger soll eine 12-stimmige Fuge geschrieben für Orgel geschrieben haben und ein Renaissance-Komponist einen Kanon für 48 Stimmen!

Gott, der unterschiedliche Stimmen zu einem guten Ganzen zusammenbringt - für mich ein hilfreiches Gottesbild.

Unsere Musik ist heute normalerweise homophon. Das ist sie etwa ab der Zeit Mozarts. Darum ist ein Stück wie „Eine kleine Nachtmusik“ für uns heute immer noch gut zugänglich. Fugen dagegen tönen sperrig, wie aus einer anderen Zeit.

Und trotzdem: wenn Mozart geistliche Musik wie sein Requiem komponiert, steht beim „Kyrie eleison“ auf einmal wieder eine grosse Fuge vor uns.

Wir kommen eben doch nicht ohne Fuge aus, die Philosophie der Fuge kann uns wertvolle Ideen geben für unsere Gesellschaft, unser Leben und unseren Glaube, so hoffe ich.

Amen.

Richterswil, den 9. März 14Peter Spörri, Pfarrer

Fuge (MP4-Datei)